Cranachs deutsche Mona Lisa in Weimar
Leonardo da Vinci lebte von 1452 bis 1519, Lucas Cranach der Ältere von 1472 bis 1553 – es ist also durchaus legitim, die Werke dieser beiden Großmeister der Renaissance miteinander zu vergleichen. Auch wenn sie unterschiedlichen Kunsttraditionen angehörten, teilten sie doch ein zentrales Anliegen: die Darstellung des Menschen in seiner individuellen Ausdruckskraft.
Ein Blick auf Sybille von Kleve
Das Porträt der Sybille von Kleve als Braut hat mich schon früh fasziniert. Obwohl das Modell den Betrachter nicht direkt anschaut, hat man das Gefühl, ihr ganz nah zu sein. Dieses Werk hebt sich deutlich von der „Stangenware“ aus Cranachs Werkstatt ab und überragt auch viele seiner anderen Porträts. Ich bin überzeugt, dass Cranach eine besondere Zuneigung zu seinem Modell empfand. Denn ohne emotionale Verbindung entsteht zwar ein Porträt – aber kein Meisterwerk.
Natürlich kann man diese Hypothese auch anders deuten. Künstler haben sich schon immer für Gesichter interessiert, die durch markante oder ungewöhnliche Züge auffallen. Ein solches Gesicht bietet eine größere gestalterische Herausforderung und bleibt im Gedächtnis. Das gilt für das sogenannte „Schön“ im gleichen Maß wie für das „Hässlich“.
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Aura und Wirkung: Sybille vs. Mona Lisa
Sybille von Kleve ist Cranachs „deutsche Mona Lisa“. Doch während Leonardos Mona Lisa oft als geheimnisvoll und unnahbar beschrieben wird, erscheint Sybille nahbar und lebendig.
Ihre Augen sind klar gezeichnet, offen und von einer direkten Präsenz, die den Betrachter sofort einnimmt. Dagegen wirken die Augen der Mona Lisa – allein schon durch die Sfumato-Technik – verwaschen und diffus. Ihre Farbigkeit ist, vorsichtig ausgedrückt, eher gedämpft und kühl.
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Auch der Gesichtsausdruck spielt eine Rolle. Ich habe nie verstanden, warum über das Lächeln der Mona Lisa so viel spekuliert wird. Mich überzeugt es nicht. Im Gegensatz dazu strahlt Sybille eine selbstbewusste Ruhe und Natürlichkeit aus, die nicht konstruiert oder kalkuliert wirkt.
Auch die Haltung des Kopfes trägt zur unterschiedlichen Wirkung bei. Sybille neigt den Kopf leicht und blickt geradeaus. Die Stellung ihrer Pupillen verstärkt den lebendigen Ausdruck. Die Mona Lisa hingegen bleibt distanziert, ihr Blick schwebt zwischen entrückt und schon nicht mehr auf dieser Welt – eine ambivalente Wirkung, die für viele den Reiz des Gemäldes ausmacht aber eigentlich etwas totes hat.
Hände und Technik
Um Leonardo nicht zu sehr zu verärgern, muss ich anerkennen: Die Hände der Mona Lisa sind ihm um Welten besser gelungen. Die entspannte Überlagerung der Finger, die natürliche Weichheit – das ist meisterlich. Cranachs Hände hingegen erinnern noch an mittelalterliche Darstellungskonventionen. Der Daumen der oberen Hand wirkt ungelenk und zu dick. Hier zeigt sich, dass Cranach in der Handmodellierung nicht an Leonardos Perfektion herankam.
Cranachs deutsche Mona Lisa in Weimar – Sfumato vs. klare Linie
Der Vergleich zwischen den beiden Werken führt uns unweigerlich zur Frage der Maltechnik.
Leonardo da Vinci revolutionierte die Malerei mit seiner einzigartigen Technik des Sfumato. Dabei verzichtete er auf harte Konturen und ließ Formen sanft ineinander übergehen, wodurch seine Figuren eine atmosphärische Tiefe und Plastizität erhielten. Besonders bei der Mona Lisa wird dieser Effekt deutlich: Die Gesichtszüge erscheinen weich, die Haut fast entrückt – aber auch, zumindest in meiner Wahrnehmung, etwas diffus um nicht tot zu sagen. War das viel gerühmte Chiaroscuro (Hell-Dunkel-Modellierung) tatsächlich die beste Wahl? Ich wage es zu bezweifeln. Oder ist es doch der Alterungsprozess, der die Mona Lisa im wahrsten Sinne farblich alt aussehen lässt.
Lucas Cranach der Ältere hingegen prägte die deutsche Renaissance mit einem völlig anderen Ansatz. Seine Maltechnik war von einer klaren, präzisen Linienführung und einer leuchtenden Farbgebung bestimmt. Im Gegensatz zu Leonardos weichen Übergängen setzte Cranach auf eine zeichnerische Strenge: Konturen wurden scharf definiert, Figuren erhielten eine fast grafische Wirkung. Besonders in seinen Porträts zeigt sich diese Tendenz zur stilisierten Eleganz. Die Hauttöne erscheinen lebendiger, wenn auch mitunter kühler, während Gewänder und Hintergründe detailreich gestaltet sind. Ich vermute, dass Cranachs Nähe zur Holzschnittkunst hier eine Rolle spielte.
Der Mund der Mona Lisa von Leonardo da Vinci und der Mund der Sybilla von Kleve, gemalt von Lucas Cranach dem Älteren
Natürlich ist es ein diffiziles Unterfangen, die Münder dieser beiden Damen miteinander zu vergleichen. Und doch drängt sich ein Vergleich geradezu auf – schon allein wegen der Schönheit ihrer Lippen. Bei Leonardo sind sie etwas ebenmäßiger, fast modellhaft weich gezeichnet. Das berühmte Lächeln der Mona Lisa – kaum mehr als ein Hauch – entsteht wohl nicht nur durch die Mundpartie selbst, sondern auch durch die feine Abstufung der Schatten, die Leonardo mithilfe seines legendären Sfumato erzeugt hat. Ob die Grübchen rechts und links des Mundes bewusst so gesetzt sind, bleibt Spekulation. Es ist ohnehin unklar, ob ein konkretes Modell vor dem Maler saß.
Manche behaupten, es handele sich um Lisa del Giocondo. Andere sehen darin ein Idealbild – eine Fantasie, wie ein weibliches Gesicht in vollkommener Harmonie aussehen könnte.
Denn ein Porträt muss nicht zwingend ein Bildnis sein. Es kann auch ein Konzept sein, eine Idee von Schönheit. Also ein sogenanntes „Idealporträt“.
Ganz anders bei der Sybilla von Kleve, jener jungen Adeligen, die Cranach d. Ä. im Auftrag porträtierte – als Braut des späteren Kurfürsten Johann Friedrich von Sachsen. Hier ging es um Wiedererkennbarkeit. Um Repräsentation. Um einen echten Menschen. Das Gesicht der Sybilla ist klar umrissen, ihre Gesichtszüge fein, aber bestimmt. Der Mund: schmaler als bei der Mona Lisa, und doch nicht weniger reizvoll. Die Lippen leicht geschlossen, mit einer fast neugierigen Spannung – als wäre sie im Begriff, etwas zu sagen. Vielleicht ist es genau das, was sie so lebendig erscheinen lässt. Im Gegensatz zur entrückten Ruhe der Mona Lisa wirkt Cranachs Braut nahbar, gegenwärtig. Fast modern.
Für mich ist die Sybilla so etwas wie die deutsche Mona Lisa – aber mit mehr Leben, mehr Konkretion, mehr Präsenz. Wenn es also einen Punktsieg gibt in dieser vergleichenden Disziplin, dann geht er, zumindest aus meiner Sicht, an Cranach.
Lesen Sie dazu auch meinen Text: Ein Porträt kann Bildnis sein
Der Mythos Mona Lisa – nur ein Hype?
Nun haben wir die Unterschiede geklärt und stehen immer noch vor einer ganz anderen Frage: Warum stand ich an einem ganz normalen Tag allein vor Cranachs „deutscher Mona Lisa“ in Weimar? Liegt es vielleicht daran, dass der Hype um die Mona Lisa im Pariser Louvre eher das Ergebnis einer geschickten Werbestrategie ist?
Cranachs deutsche Mona Lisa in Weimar ist ein Genuss ohne Menschenmassen.
Ich ziehe es jedenfalls vor, Sybille in Weimar ganz in Ruhe und aus nächster Nähe zu betrachten, anstatt mich durch die Touristenmassen des Louvre zu kämpfen, nur um am Ende doch keinen richtigen Blick auf die Mona Lisa werfen zu können.
Übrigens: Während sich die Besuchermassen auf der Etage mit der italienischen Renaissance drängen, kann man sich in den höheren Stockwerken ungestört den Cranachs und vielen anderen Meisterwerken widmen. Denn um Kunst geht es den meisten Besuchern nicht. Es geht um das „Dagewesensein“
Der Vergleich zwischen Cranachs „deutscher Mona Lisa“ und Leonardos Mona Lisa lehrt uns letztlich eines: Traue deinen eigenen Augen – und nicht dem, was dir gesagt wird!