Gepökelte Schweinezunge mit Rosenkohl
Ein Stück unserer Zeit 1933 aufgeschrieben– Nathanael West „Miss Lonelyheardts“.
Sagenhafte, schiere, unbeschreibliche hunderttausend belletristische Neuveröffentlichungen wurden dem deutschen Publikum im letzten Jahr zugemutet. Und dann das. Ein vergessener Schriftsteller schrieb mir vor langer Zeit eine Geschichte auf, die ich zu kennen glaube. Klar und unter Entsagung lästiger intellektueller Sahnehäubchen. Ist dies kapitalistischer Realismus? Die Miss, deren Männername wir nicht erfahren, arbeitet als Redakteur einer Zeitung und beantwortet Leserbriefe von Damen mit Problemen. Es wir nicht beschrieben, aber ER, Miss Lonelyhearts, hat sich sein Leben anderes vorgestellt. Natürlich kommt es zu Begegnungen mit seinen Kundinnen. Einige der Lesebriefschreiberinnen erkennen, dass die Miss hormonell anders veranlagt ist, als ihr Name vermuten lässt. Die unvermeidlichen Verwicklungen bleiben nicht aus. Wer kann sich – als Mann – fremden Ehekrisen verschließen, wer kann – als Mann – Annäherungen seiner Leserinnen auf Dauer widerstehen? Und das unter Einwirkung der, um dies zu ertragen, benötigten Menge Alkohol?
Nathanael West s´Miss Lonelyhearts kann damit genauso wenig umgehen, wie mit seinem Job, und lässt sich treiben.
Verzweifelt und sein Leben rutscht unaufhaltsam auf der Bahn hinab, die er niemals betreten wollte. Eine derjenigen, die er durch seine Kolumne zumindest trösten sollte, aber nicht wollte – reißt er sie mit. Oder sie ihn?
Wenn der Manesse Verlag, dem die Ehre zuteilwird, den Roman veröffentlicht zu haben, behauptet dieser todernste Roman sei eine Komödie so irrt er gewaltig. Für mich ist der Roman Realismus – eventuell auch literarischer Verismus. Darüber ließe sich streiten. Die Zeit war danach, wie die unsere auch danach ist. Man denke an Otto Dix und George Grosz – an Neo Rauch und seinen destruktiven Realismus. Mir fehlt eine derartige Literatur in Deutschland. Oder habe ich sie nicht gefunden. Wer in die Schreibstuben, Formatentwicklerbuden und Projektentwicklerhöhlen sehen kann, schriebe Ähnliches auf. Denn die Themen sind so zahlreich wie die Menschen und ich und du und unser Sein. Dass die Entertainmentgruppe 47 einen Celan verabscheute (oder zumindest verdrängte), nehme ich ihr übel. Aber dass uns diese – schon immer alten Männer – mit ihren Verdrängungsmechanismen eine so verquaste Literaturauffassung hinterlassen haben, ist hart. Und dies nicht nur für die deutsche Literatur nach der Schoah. Wir ersaufen in der Langnesecrem der Verkopftheit und der selbstreferenziellen Schreiberei.
Nathanael West, ein Jude, vermutlich deutscher Herkunft, war für mich neben Oksana Sabuschko, die eine Ukrainerin ist, wohl die größte Entdeckung 2012.
(Vorbehaltlich der nicht entdeckten Bücher)
Gebundenes Buch, Leinen mit Schutzumschlag, 176 Seiten, 12,5 x 20,0 cm
ISBN: 978-3-7175-2274-4
€ 19,95