Horst Kistner: Die Ausstellung im Kunstverein Siegen und seine Obsessionen
Häufig steht die Behauptung im Ausstellungsraum, die Arbeit eines Künstlers sei einer Obsession geschuldet. Das sollte auch der Fall sein, wenn Kunst ernsthaft betrieben wird. Die Behauptung einer Obsession ist aber, wenn es um scheinbar erotische Inhalte geht, oft negativ besetzt.
Besucher der Vernissage von Horst Kistners Ausstellung „Les sentiments perdus“ im Kunstverein Siegen äußerten mir gegenüber auch diesen unsäglich lapidaren „Verdacht“, der sich gern zur Behauptung aufschaukelt und am Ende in ein Urteil mündet. Hinter solch einem Urteil verbirgt sich häufig nicht nur ein Dünkel gegenüber dem menschlichen Dasein, sondern auch elementares Unwissen.
Dieses Missverständnis ist abgrundtief und spätestens nach der sogenannten „sexuellen Revolution“ auch absurd. Selbst der derzeitige Papst schreibt: „Wir dürfen also die erotische Dimension der Liebe keineswegs als ein geduldetes Übel oder als eine Last verstehen (…), sondern müssen sie als Geschenk Gottes betrachten“.
Es dauert zuweilen sehr lange, bis man erkennt, dass die Erde keine Scheibe ist und auch nicht im Mittelpunkt des Sonnensystems steht.
Der neue Bildband "Lichtspiele" von Horst Kistner - jetzt blättern
Viele Menschen scheinen nicht in der Lage zu sein, Sinnlichkeit und Erotik zu trennen.
Dies ist der eine Punkt. Der andere: Erotik ist existenziell wichtig und hat in der Kunst schon immer seine Berechtigung; ja, die Kunst ist regelrecht verpflichtet, sich diesem Thema zu widmen.
Eros und Thanatos sind die Grundelemente unseres Daseins. Nicht so sehr um den Thanatos als Synonym für die von Freud beschriebene Todessehnsucht geht es im Bezug auf die Sinnlichkeit in den Fotografien von Horst Kistner, sondern vielmehr um den Gott des Todes, der da auf uns warten wird, wo sich Tag und Nacht begegnen.
Das Unvermeidbare impliziert natürlich auch die Vergänglichkeit der Schönheit.
Ja, ich behaupte, die Schönheit und deren Darstellung trägt die Vergänglichkeit schon in sich. Wer es vermag genau hinzuschauen, wird dies mehr und mehr entdecken.
Die Kunst und die Philosophie sind undenkbar ohne die Pole Zeugung, Geburt und Tod. Der Marxismus-Leninismus behandelte diese Themen nicht und ist unter anderem deshalb auch keine Philosophie, wie oft behauptet, sondern eine Ökonomie, die sich lediglich auf den produktiven Teil des Menschen bezieht und reduziert.
Die Haltung zur Erotik in Diktaturen und orthodoxen Religionen braucht nicht näher erklärt zu werden.
Eine Anekdote mag aber helfen. In den frühen 80er Jahren des letzten Jahrhunderts war ich in der Sowjetunion. Dort übernachtete man in Hotels, die vorwiegend für Ausländer gedacht waren. In der Bar lief ein Fernseher mit der DDR-Sendung „Ein Kessel Buntes“. Das Fernsehballett führte auch den berühmten Can-can auf. Die wenigen hochrangigen Genossen, die zu dieser Bar Zugang hatten, folgten dem Geschehen mit aufgerissenen Augen. Für sie war dies Pornografie.
Andererseits ist bekannt, mit welch einer Menschenverachtung Diktatoren ihre Herrschaft verteidigen und Leben skrupellos vernichten.
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Wenn aus der Kunstgeschichte Erotik und Sinnlichkeit getilgt würden, bliebe nicht mehr viel übrig. Die Sixtinische Kapelle müsste geschlossen und die Wand, an der Michelangelo sein Fresko des jüngsten Gerichts malte, zu einem Kletterparadies umgestaltet werden. Laute Discomusik erschütterte das heilige Gemäuer. Es röche nach Schweiß und verschütteter Bionade.
Freilich blitzt Erotik auch in Kistners Werk auf, aber trotzdem ist seine Kunst nicht explizit erotisch zu nennen. Dafür sind seine Bildwelten zu harmlos, und einem Egon Schiele oder John Currin kann er in dieser Beziehung nicht das Kunstwasser reichen.
Da Kistner aber nicht den Anspruch hat, dieses Thema in den Vordergrund zu stellen, kommt ein anderer Aspekt zum Tragen, der mir bei ihm der künstlerische, rote Faden zu sein scheint: die Melancholie.
Spätestens seit der großen Ausstellung „Melancholie – Genie und Wahnsinn in der Kunst“ im Grand Palais, Paris und der neuen Nationalgalerie Berlin in den Jahren 2005 und 06, ist dieses Thema wieder ein wenig präsenter als zuvor und in dem dazugehörigen sehr umfangreichen Katalog auch gut aufbereitet. In der Antike beginnend, läutet der Katalog das Kapitel der „Moderne“ mehr oder weniger mit Edward Hopper ein.
Hopper ist für Horst Kistner ein – vielleicht das größte – Vorbild aus dem Bereich der bildenden Kunst. Hoppers Bildwelten sind auch die seinen und er denkt in ihnen. Und es ist ebendiese Zeit, in der er seine Geschichten erzählt.
Das Konforme unserer Möbel- und Dingwelt ist nicht Kistners Sache.
Ein Billy- oder USM-Haller-Regal interessiert ihn nicht. Unsere rasende Zeit und die daraus resultierende Oberflächlichkeit wird aus seinen Bildern ausgesperrt. Nicht nur nachdenklich machen seine Fotografien; man verweilt in ihnen und sie sind Ankerpole und eine hoch künstlerisch aufgeladene Form der Entschleunigung.
Nach seiner Zeit als Auftragsfotograf mit dem Schwerpunkt hochwertiger Food-Fotografie sammelte Kistner Vintage Möbel und dazugehöriges Inventar.
Dieser Fundus war Impuls, Kompositionen daraus zu erschaffen und diese letztendlich mit Leben zu füllen.
Natürlich sind seine Models vorzugsweise im passenden Outfit gekleidet, aber sie entstammen nicht einer anderen Zeit. Kistners Fotografie ist zeitgenössisch zeitlos, auch wenn es Stimmen gibt, die seine Arbeit in die Schublade „Vintage Fotografie“ stecken wollen. Die Geschichten, die er erzählt, sind Geschichten unseres Lebens, auf hintergründige Weise wiedergegeben und verschlüsselt.
Aber doch sind sie für jeden zugänglich, der vermag, „sich ein Bild“ – sein eigenes Bild – zu machen.
Wenn Sie Interesse haben können Sie in einem weiteren Artikel – Hinter den Kulissen beim Fotografen Horst Kistner – erahnen wie der Fotograf arbeitet.
Eine weitere und besonders ausgeprägte Obsession Kistners ist noch zu benennen:
Der Fotograf erzählt uns, übersetzt in inszenierte Fotografie, eine gesamte Geschichte – und das in einem einzigen Bild. Kistner stellt keinen Moment dar und bildet auch keinen Gegenstand als solchen ab. Seine Kunst ist ein geronnener Film und eben mehr als nur ein Film-Still. Lichtbildner werden Fotografen genannt. Kistners Licht ist mit der Handschrift eines Malers zu vergleichen. Virtuos beherrscht er das Clair-obscur. Das Hell-Dunkel der Spätrenaissance und des Barock faszinierte ihn schon immer, und die Filme von Alfred Hitchcock taten das Ihre dazu.
Film zur Ausstellung
Freilich kann man solche – in Film und Fotografie „Low-key“ genannten – Effekte technisch durch Unterbelichtung oder Nachbearbeitung herbeiführen.
Das ist aber nicht sein Ding. So sorgfältig, wie Kistner die Bühnen und Kulissen baut, in denen seine teils obskuren Handlungen aufgeführt werden, so penibel wird das Licht gesetzt und lange, bevor das Model den imaginären Raum betritt, ausgiebig getestet.
Der Aspekt des Surrealen darf bei der Betrachtung seines Werkes auf keinen Fall vergessen werden.
Er kann sich in verschiedenen Formen zeigen. Ich sehe Traumsequenzen bildhaft umgesetzt. Dazu bedarf es nicht des Schlafs. Derartige Träume gehören zu Kistners Gedankenwelt. Aus dieser schöpft er unendlich viele Bildwelten, die sich in unser Innerstes einbrennen. Dafür genügt ein einfacher Test, für mich schon seit langer Zeit ein Qualitätsmerkmal bildender Kunst: Nach dem Besuch einer Ausstellung lässt man eine Woche ins Land gehen und versuche sich dann die Bilder in das Gedächtnis zu rufen.
Gelingt dies und erzeugen sie eine Resonanz, war und ist diese gesehene Kunst gut. Wenn dasselbe nach 10 Jahren gelingt, war sie sehr gut.
Über 20 Jahre professionelle Werbefotografie hat Kistner hinter sich. Nach drei Jahren im freien künstlerischen Raum ist dies seine erste größere Ausstellung. „Les sentiments perdus“ im Kunstverein Siegen – ein überzeugender Auftritt, der nach mehr verlangt.
Alle Videos über die Arbeit des Künstlers HORST KISTNER auf unserer Playlist
Horst Kistner
Les sentiments perdus
Fotografie
7. April bis 1. Mai 2016
Kunstverein Siegen im Haus Seel
Kornmarkt 20, 57072 Siegen
Di.-Sa. 14-18 Uhr, So. und feiertags 11-13 und 14-18 Uhr