Fernanda Melchor Saison der Wirbelstürme
Am Anfang eines Romans mitten im Geschehen zu sein ist unüblich. Ich gestehe, dass ich nicht da war. Nicht dort in Mexiko. Aber eben da.
Vor Jahren bin ich mit zwei Begleitern, um gerecht zu sein, einer Frau und einem Mann in Venezuela für zwei unvergessliche Tage gestrandet. Es war nicht geplant. Der Umstieg Richtung Europa misslang. Ein Mietwagen wurde genommen und der Vermieter riet dringend, die Türen auch während der Fahrt von innen zu verriegeln. Leichtsinnig und neugierig, wie wir waren, fuhren wir planlos in das Land hinein. Bewegten uns auf staubig heißen und übermäßig breiten Hauptverkehrsstraßen geradewegs den Bergen entgegen. Die Luft flimmerte über dem Asphalt. Uns kamen riesige, rostige und stinkend qualmende Rohöltanklaster entgegen. Sie hupten unentwegt und drängten uns fast auf den Sandstreifen, obwohl für sie genügend Platz vorhanden war.
Gesäumt war dieser Rohöltransportweg von offenen Kneipen mit verrotteten Wellblechdächern. Überdimensionale Grillroste, Sitzbänke, Bier und andere alkoholische Getränke in schmierigen Glaskühlschränken und abgerissene Gestalten waren in diesen Unterständen zu sehen. Coca Cola natürlich auch bei den Sozialisten. Der scharf nach verbranntem Fleisch riechende Qualm waberte um die Hütten. Kleine Siedlungen mit üblen Katen und streunenden Hunden, von denen nicht klar war, ob sie eines Tages auf einem der Grills am Straßenrand landen, säumten die Straße. Schlachtereien im Freien.
Kopfüber kopflos hängende Hühner und Rinderhälften. Aufgebrochene Hammelschädel auf ungehobelten Brettern. Böcke darunter. Im Wind wehende indianische Kleidung und T-Shirts aus China. Gerüche nach den Abgasen der alten Motoren, die mich an die 60er-Jahre in Deutschland erinnerten. Amerikanische Schlitten aus scheinbar besseren Zeiten.
Genau dort war ich nach einigen Seiten im Roman Saison der Wirbelstürme. Genau so und ganz intensiv.
Freilich, Venezuela ist nicht Mexiko, aber es muss dort ähnlich sein. Mir kamen auch die an die Straße von Hormus angrenzenden Länder in den Sinn. Ja bis hinein in das Schwarze Meer. Als ich diese Gegend auf einem Musikdampfer als eingeladener Gastkünstler bereiste, musste ich mehrmals an Josef Conrad denken. Er beschrieb das Meer und die Gegend so, wie ich es fühlte. Ob diese Regionen eigentlich bewohnbar seinen, dachte ich. Da kam der Nordeuropäer in mir durch. Inwieweit klimatische Verhältnisse auf gesellschaftliche Zustände Einfluss haben, vermag ich nicht zu sagen und beende diesen Gedanken lieber. Den als Deutscher mit der entsprechenden Geschichte im Rücken über solches nachzudenken ist an sich schon absurd.
Aber wie die Saison der Wirbelstürme geschrieben ist. Atemlos, saugend, mitreißend. Alles belanglose Beschreibungen für diesen Roman und nicht angemessen.
Man denkt nicht, dass dieser Text überhaupt eines Satzzeichens bedarf. Der wirbelnde Strom der Wörter, Sätze. Die verwobenen Erzählstränge reißen den Leser mit und treiben ihn durch das Fegefeuer des menschlichen Daseins. Zuweilen blitzen aktuelle Nachrichten aus Mexiko bei mir als Leser auf. Gewollt ist das von Fernanda Melchor eher nicht, denn dieser Roman, so ortsbezogen er auch sein mag, er ist allgemeingültig.
Diese Heftigkeit erzählerischer Kraft. Solch ein Furor, mit der sie eindringliche Bilder der Wirklichkeit in die Hirnrinde des Lesers einbrennt, ist mir noch nicht begegnet. Dass Okkulte ist wohl fremd. Eine Hexe, die sich als Transvestit entpuppt, denn mehrmals wird von einer Tunte geschrieben. Drogen, Aussichtslosigkeit und der totale Absturz ist allgegenwärtig. Wer da meint, dies wäre zu fern, betrachte hierzulande Bevölkerungsgruppen, die randständig genannt werden. Unbekannt ist das alles nicht, aber literarisch spielt es keine Rolle.
Selbst die Entwicklungsschritte, an deren Ende ein bestialischer Mord stand, konnte ich in den Gerichtsakten eines deutschen Mordprozesses – ähnlich dem im besprochen Roman beschriebenen – nachlesen. Trotzdem danke ich unserer zivilisierteren Gesellschaft dafür, dass solches bei uns wesentlich seltener geschieht, denn leben möchte man in und unter solchen Umständen nicht.
Im Menschen ist die Anlage zur Bestie jedoch tief verankert und muss lediglich geweckt werden. Gesellschaftliche Verhältnisse ändern sich durch politisches Versagen.
Größenwahnsinnige Populisten, Autokraten und Diktatoren sind jederzeit fähig, den Menschen zurück ins archaische zu führen. Milgram hat dies mit seinen – freilich umstrittenen – Experiment deutlich gezeigt und das Massaker von Srebrenica war der letzte europäische Beweis dafür. Also – nicht in den Ohrsessel lehnen und dieses Buch lesen, als wäre es aus einer fremden Welt. Die meisten Diktatoren und Autokraten werden vom Volk gewählt.
Frauen-Literatur. Männer-Literatur. Literatur! Es gibt Literatur wie diese und andere. Eine Einteilung in famale oder male ist widersinnig, wie Fernanda Melchor mit Saison der Wirbelstürme eindrücklich beweist.
Oksana Sabuschko oder Maria Matios und andere würden mir zustimmen. Möglich wäre es aber, dass einE RezensentIn das „Schmutzige“ dieses Textes, wäre ein Mann der Urheber, zum Anlass nähme, den armen Schreiber mit bösen Worten vom Literaturmarkt zu vertreiben. So polarisierend können die Welt- und Literaturansichten sein. Seit dieser Lektüre ist Philipp Roth für mich ein Weißenknabe.
Schlechten Schmutz können beide Geschlechter zu Papier bringen. Das geronnene Leben und das Sein an sich literarisch darzustellen ist keine Geschlechterfrage. Es ist eine Frage des literarischen Vermögens. Und Mut gehört dazu. Ja, Mut. Mut, Bilder in Sprache zu fassen, die es gibt und die nicht jeden Schmecken oder bekommen und die wenigsten sehen wollen. In diesem Roman ist die Gewalt – und die sexuelle im Besonderen – nicht an ein Geschlecht gebunden. Männer gegen Männer, Schwule gegen Schwule. Erwachsene gegen Kinder und eine Frau tötet ihr Kind, weil sie eifersüchtig auf dessen Liebe (kindliche Liebe und nicht sexuell) auf deren Vater ist. Der Text auf dem Buchrücken führt in die Irre. Oder wie soll ich diesen begreifen?
Diese nicht hoch genug zu lobende Roman kommt aus, ohne eine sogenannte „Stellung“ zu beziehen, dem Leser die Befindlichkeiten des Autors oder der Autorin aufzudrängen – den Bildungsguru und Besserwissenden raushängen zu lassen. Weder das zu Schreibende manieristisch zu verschnörkeln, noch sich in feiner Sprache zu verstricken, die einem wie Zuckerwatte in den Gehirnwindungen hängen bleibt.
Die Wahrheit im Text erfinden und noch wahrer zu machen als das, was wir erkennen können, das ist meine Literatur.
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