Anstehen bei der Suche nach dem Paradies
Als Wilhelm Meister auf seiner Wanderung an diesem Ort kam, stand hier weder eine Ampel noch gab es diesen Tunnel durch das Massiv des Gotthard.
Auch ist mir nicht bekannt, ob er mit der Tradition des Anstehens vertraut war. Jedenfalls beschrieb Goethe nichts Derartiges – so ich mich recht erinnere. Um Bananen zu erwerben – und dafür anzustehen – ist mir noch in guter Erinnerung. Obwohl ich dies nie tat, habe ich damals aber doch, um eine Schreibmaschine erwerben zu dürfen, diverse Anträge gestellt. Erika nannte sich dies graue Ding und war amtlich registriert, damit auf ihr keine falschen Sätze für die Öffentlichkeit geschrieben werden konnten. Tunnel wurden in dem Land der Ansteher und Antragsteller nur insgeheim und privat gegraben. Von Ost nach West. Freilich träumten auch diejenigen die keine Tunnel gruben davon diesen Pass mit einem Pass zu unter- oder überqueren. Öffentlich sprach man darüber nicht nur aus Anstand nicht, sondern auch weil die tunnellose Gegend von fremden Ohren besetzt war. Derart abnorme Schwelgereien, wie ich sie mir gelegentlich leiste, waren weder für das Ansehen noch das Einkommen zuträglich.
Mehrmals stand ich schon gelassen an dieser Ampel, um auf die andere Seite zu gelangen.
Wurde bisher noch nicht abgewiesen. Nicht nur das Wetter ist auf der anderen Seite des Gebirges ein Anderes. Irgendwie werde ich am anderen Ausgang des Tunnels auch gelassener. Das Fahrzeug rollt von selbst den Berg hinab und schon ist man in Ascona. Den Berg der Wahrheit (Monte Verità), auf dem sich vor über 100 Jahren eine putzige Kommune gegründet hatte, lies ich links oder rechts (weis nicht so genau wo) liegen, obwohl einige illustere Gesellen – wie Lenin, Trotzki, Hermann Hesse aber auch Erich Mühsam – dahin pilgerten, um das Experiment wohlwollend zu begutachten.
Letzterer berichtete:
„Einer besonders ulkigen Marotte wegen möchte ich ferner einen Herrn erwähnen, der nicht nur Rohköstler und Temperenzler ist, sondern es sogar verschmäht rohe Weintrauben zu genießen. Er begründet das mit seinem Keuschheitsprinzip. Weintrauben, behauptet er, wirken auf Geschlechtsnerven, denn schon die alten Griechen feierten das Fest des Dionysos zugleich mit dem der Aphrodite.“
Ich persönlich finde vergorene Trauben durchaus bekömmlich und schmackhaft, bin mir jedoch nicht sicher ob er, in Maßen genossen, die Geschlechtsnerven zu erregen vermag. Da ich diese Zeilen in den Stunden vor meiner Siesta schreibe und ich mir – in der Regel – jeden Alkoholgenuss vor der Zeit des Aperitif verbiete, ist es mir jetzt nicht vergönnt, die Glaubwürdigkeit dieser mutigen Aussage Glas für Glas zu überprüfen.
Dem Innerstädtischen Leben und geregelten Tagwerk nach Cannero entflohen, reicht es vorerst zu schauen und abzuwarten was die Gedanken machen, wenn sie von der Leine gelassen werden.
Die Pinsel sind ausgewaschen und die Farbtuben sorgsam verschlossen. Just in diesem Augenblick geben mir die Glocken der umliegenden Kirchen und Kapellen die Gewissheit in Italien zu sein. Gekräuselte Flecken mäandern über den Largo Maggiore und die Gipfel des umliegenden Gebirges werden vom Dunst umstrichen. Der Pulposalat, den eine liebe Freundin für uns im Kühlschrank lies, schmeckt vorzüglich.