Der rote Faden in der Kunst – eine kleine Geschichte über Orientierung, Verirrung und jene Linien, die wir nicht sehen, aber spüren
Ariadne, Theseus und ein rettender Faden
Wenn man in der Kunstgeschichte dem roten Faden folgt, stößt man früher oder später auf ihn: eben diesen Faden. Er tritt nicht laut auf. Er hat selbst keine heroische Pose. Und doch ist er einer der großen, heimlichen Lenker der Bildwelt. Also hat der rote Faden in der Kunst einen festen Platz gefunden.
Sein Ursprung liegt in einem Mythos, der an Einfachheit kaum zu übertreffen ist: Ariadne gibt Theseus ein Fadenknäuel, damit er das Labyrinth von Knossos wieder verlassen kann.
Ein so schlichtes Bild, dass man fast vergisst, wie viel es über menschliche Orientierung erzählt. Der Faden führt nicht nur einen Helden aus der Finsternis – er schafft Ordnung, wo es keine gibt. Er ist das erste Narrativ, das buchstäblich aufgewickelt und entwirrt werden muss.
In antiken Darstellungen – auf attischen Vasen und römischen Reliefs – taucht der Faden zwar nicht immer deutlich sichtbar auf, doch die Erzählung ist in jeder Darstellung spürbar.
Die frühen Künstler brauchten den Faden nicht einmal zu malen; sein geistiger Raum genügte. Erst viel später, in der Renaissance und dem frühen Klassizismus, wird er konkret: Bei Johann Heinrich Tischbein bietet Ariadne Theseus ein klar erkennbares Garn an, mit dem er sich retten kann. Ein stiller und liebevoller Moment.

Der Faden ist also von Anfang an mehr als ein Gegenstand: Er ist Beziehung, Rettung, Ordnung, Zuneigung. Ariadne führt nicht nur Theseus – sie führt die gesamte Kultur in ein Symbol ein, das fortan nie wieder verschwindet.
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Schicksalsfäden und die Parzen: Wenn der rote Faden die Welt erklärt
Während Ariadne die Kunstgeschichte mit einem orientierenden Faden bereichert, spinnen die Parzen – Clotho, Lachesis und Atropos – gleich das ganze Leben. Sie ziehen den Faden des Menschen aus einem unendlichen Dunkel, messen ihn sorgfältig ab und schneiden ihn zu gegebener Zeit ab.
Dass Kulturen einen Faden benötigen, um das Leben zu erklären, ist kein Zufall. Vor den schriftlichen Religionen, vor den Büchern, vor den großen Theorien brauchte man etwas Greifbares. Ein Faden ist einfach, aber nicht simpel: Er kann reißen, sich verknoten, sich lösen, sich verlängern. Kein Symbol eignet sich besser, um die Fragilität des Lebens zu beschreiben.
Hier entsteht eine der gewaltigsten Bedeutungsverschiebungen der Kulturgeschichte:
Aus Ariadnes praktischer Orientierungshilfe wird plötzlich ein kosmisches Ordnungsprinzip. Der Faden wird zum Lebensfaden, zum Schicksalsfaden, zu jener Linie zwischen Beginn und Ende, die sich jeder Mensch erst ertasten muss.
Goethe und die frühe Moderne: Der rote Faden als geistiges Ordnungsprinzip
Goethe gibt dem Faden schließlich den Namen, der unser Denken bis heute prägt. In den „Wahlverwandtschaften“ beschreibt er die englische Marine, deren Seile einen roten Kern enthalten, der Eigentum und Herkunft markiert. Dieser reale Faden, durch das gesamte Tau gezogen, inspirierte ihn zu einer Beobachtung, die man getrost als poetische Theorie der Form lesen kann. Goethe schreibt in den Wahlverwandschaften:
„Alle Seile der englischen Marine haben einen roten Faden durchlaufen, welcher sich nicht herausziehen lässt, ohne dass das Ganze aufgelöst wird.“
Es ist ein wunderbar schlichtes, aber ungeheuer treffendes Bild. Ein Faden, der alles zusammenhält, aber fast unsichtbar bleibt; ein Faden, der den Ursprung markiert, ohne sich aufzudrängen.
Goethe überträgt dieses Prinzip auf die Kunst selbst. Der rote Faden wird ihm zum Sinnbild der inneren Struktur eines Werkes, zum Hinweis darauf, dass sich durch ein Ganzes etwas zieht, was man nicht unbedingt sieht, aber spürt.
Seit Goethe steht der rote Faden für Zusammenhang, Narration und Logik – für jenes zarte Gefühl, dass eine Geschichte Sinn ergibt, selbst wenn wir den Ausgang noch nicht kennen.
Der Faden führt. Und gleichzeitig verrät er, wem das Ganze gehört.
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Somy Samani – Le Fil Rouge | Der rote Faden in der Kunst, der den Blick verhüllt
Wenn die Geschichte des roten Fadens uns in diesem Text von Ariadne bis Goethe führt, dann bringt Somy Samani ihn in eine Gegenwart zurück, in der Orientierung nicht mehr nur ein mythisches, sondern ein existenzielles Thema ist.
Samani, eine iranische Künstlerin, die in einer Zeit arbeitet, in der ihr Herkunftsland zwischen Aufbruch, Repression und tiefer Ausweglosigkeit steht, verwandelt den roten Faden in ihrer Fotografie Le Fil Rouge in ein politisch aufgeladenes Symbol – ohne ein einziges Wort politisch aussprechen zu müssen.
Das Geflecht der roten Linien legt sich wie ein zarter, aber unnachgiebiger Schleier über die Augen der Frau.
Es wirkt, als sei der Blick gebunden, gefangen in einem Netz, das zugleich fein und unerbittlich ist. Dieser verhüllte Blick ist keine gestische Ästhetik, sondern eine leise Metapher für das Leben vieler Frauen im Iran, deren Sicht auf die Welt – und deren Sichtbarkeit in der Welt – von äußeren Kräften eingeschränkt wird. Der rote Faden, einst der Weg aus einem Labyrinth, wird bei Samani zu einem unentwirrbaren Knäuel der Begrenzung. Zur Erinnerung daran, dass Orientierung nicht möglich ist, wenn man nicht frei sehen darf.
Und doch bleibt das Bild nicht im Dunkeln stehen.
Das vibrierende Rot spannt sich chaotisch und folgerichtig zugleich über das Gesicht, als würde es den inneren Gedankenstrom der Figur sichtbar machen – jene inneren Räume, die trotz aller äußeren Einschränkungen bestehen.
Zwischen dem warmen Hintergrund, dem leuchtenden Grün des Kleides und dem nervös pulsierenden Faden entsteht eine Spannung, die weit über die klassisch-surrealen Anmutungen hinausgeht. Sie erinnert an ein inneres Labyrinth: nicht das der Mythen, sondern das der Gegenwart. Ein Labyrinth aus Angst, Mut, Erinnerung und dem stummen Wissen, dass Freiheit immer zuerst im Blick beginnt.
Samani knüpft an die alte Ariadne-Erzählung an, doch sie löst sie aus ihrer heroischen Tradition.
Der Faden führt hier niemanden hinaus. Er hält fest. Er verdeckt. Er verweist auf eine Realität, in der Orientierung kein selbstverständlicher Zustand mehr ist, sondern ein hart erkämpfter. Und gerade dadurch wirkt der rote Faden in dieser Fotografie wie ein Echo jener alten Bedeutung, die ihn seit Jahrtausenden begleitet, jedoch gebrochen und neu interpretiert durch die politische und soziale Gegenwart des Iran.
Le Fil Rouge ist damit mehr als ein Porträt.
Es ist ein Gleichnis über Identität unter Druck, über Wahrnehmung, die behindert wird, und über innere Räume, die sich trotz allem behaupten. Der rote Faden wird zum Symbol einer Spannung zwischen Schweigen und Sichtbarkeit, zwischen Verletzlichkeit und Beharrlichkeit. Und vielleicht zeigt Samani damit die modernste Form dieses uralten Motivs: Der Faden ist nicht mehr der Weg, der hinausführt. Er ist die Frage, wie man überhaupt sehen kann, wenn die Welt den Blick verhüllt.
Lesen Sie auch den Artikel: Somy Samani Schönheit und Widerstand
Ein Kunstwerk, das sich nicht erklären will, aber auch nicht übersehen lässt.
Hier der Link zu: Somy Samani – Le Fil Rouge















