Horst Kistner: Die Ausstellung im Kunstverein Siegen und seine Obsessionen
Häufig steht die Behauptung im Ausstellungsraum, die Arbeit eines Künstlers wie Horst Kistner sei einer Obsession geschuldet.
Das sollte auch der Fall sein, wenn Kunst ernsthaft betrieben wird – schließlich ist die Obsession der Brennpunkt, an dem Wahrnehmung, Leidenschaft und Ausdruck verschmelzen. Doch gerade, wenn es um scheinbar erotische Inhalte geht, wird diese Obsession schnell pathologisiert, als etwas Unangemessenes, Verstiegenes, beinahe Anstößiges betrachtet. Statt sie als Antrieb künstlerischer Wahrheitssuche zu begreifen, wird sie dann zur Projektionsfläche für gesellschaftliche Tabus. Dabei liegt in der künstlerischen Obsession – auch und gerade mit dem Erotischen – nicht das Verstörende, sondern die ungeschönte Offenbarung unserer inneren Wirklichkeiten.
Besucher der Vernissage von Horst Kistners Ausstellung Les sentiments perdus im Kunstverein Siegen äußerten mir gegenüber jenen lapidaren „Verdacht“, der sich so gern zur Behauptung auswächst – und schließlich in ein Urteil mündet.
Ein Urteil, das weniger über das Werk aussagt als über die Urteilenden selbst. Hinter solchen schnellen Zuschreibungen verbirgt sich oft mehr als nur ein Unbehagen gegenüber dem Gezeigten: Es ist ein tief sitzender Dünkel gegenüber dem menschlichen Dasein in seiner Ambivalenz – gepaart mit elementarem Unwissen darüber, wie Kunst funktioniert, wie sie sich speist aus Reibung, Begehren und Unausgesprochenem. Wer hier vorschnell urteilt, offenbart nicht selten die eigenen Grenzen – und verwechselt Interpretation mit Projektion.
Dieses Missverständnis ist tief verwurzelt – und wirkt nach all den gesellschaftlichen Umwälzungen, die mit der sogenannten „sexuellen Revolution“ einhergingen, geradezu absurd. Noch immer wird das Erotische in der Kunst gern als Provokation, als Grenzüberschreitung oder gar als moralischer Fehltritt gelesen. Dabei müsste es längst als das erkannt werden, was es im besten Fall ist: ein Ausdruck menschlicher Tiefe, Verletzlichkeit und Lebendigkeit. Selbst Papst Franziskus schreibt: „Wir dürfen also die erotische Dimension der Liebe keineswegs als ein geduldetes Übel oder als eine Last verstehen (…), sondern müssen sie als Geschenk Gottes betrachten.“
Es ist eine bittere Ironie der Geschichte, dass es oft Jahrhunderte dauert, bis eine kulturelle Erkenntnis in das allgemeine Bewusstsein einsickert. So wie einst das geozentrische Weltbild weichen musste, braucht es offenbar auch heute noch Geduld, bis man begreift, dass Erotik weder Schande noch Schwäche ist – sondern Teil unseres Menschseins.
Der neue Bildband "Lichtspiele" von Horst Kistner - jetzt blättern
Viele Menschen scheinen nicht in der Lage zu sein, zwischen Sinnlichkeit und Erotik zu unterscheiden.
Dabei ist diese Unterscheidung entscheidend – nicht nur für das Verständnis von Kunst, sondern auch für das Begreifen menschlicher Ausdrucksformen überhaupt. Sinnlichkeit beschreibt eine offene Wahrnehmung, eine Empfänglichkeit für Schönheit, Berührung, Atmosphäre. Erotik hingegen ist ein vielschichtiger Impuls, der über das rein Körperliche hinausgeht – sie ist Projektion, Spannung, ein Spiel mit Nähe und Distanz.
Das ist der eine Punkt. Der andere, wesentlichere: Erotik ist ein existenzieller Bestandteil unserer Kultur und unserer Psyche.
Sie berührt Fragen von Identität, Begehren, Verletzlichkeit – und ist damit ein uraltes Thema der Kunst. Tatsächlich ist die Kunst nicht nur berechtigt, sich mit Erotik auseinanderzusetzen; sie ist beinahe verpflichtet dazu. Denn wo sonst, wenn nicht in der Kunst, darf das ausgesprochen, gezeigt, hinterfragt und transformiert werden, was in der Gesellschaft oft tabuisiert oder verkürzt behandelt wird?
Eros und Thanatos – die beiden Grundelemente unseres Daseins.
Sie bilden das Spannungsfeld, in dem sich unser Leben entfaltet: zwischen Begehren und Vergehen, zwischen Hingabe und Auflösung.
n den Fotografien von Horst Kistner ist es weniger der Thanatos im freudschen Sinne einer destruktiven Todessehnsucht, der spürbar wird, sondern vielmehr die stille Präsenz des Todesgottes – jener mythischen Figur, die dort wartet, wo sich Tag und Nacht berühren. An der Schwelle, an der sich Licht und Schatten begegnen, wird das Sinnliche durchlässig für das Unvermeidbare.
Das ist es auch, was Kistners Bilder so eindringlich macht: die Erkenntnis, dass jede Form von Schönheit bereits ihre Vergänglichkeit in sich trägt. Nicht als Makel, sondern als tiefere Wahrheit. Die Haut, das Licht, der Blick – all das erscheint bei genauerer Betrachtung nicht nur als Darstellung von Anziehung, sondern auch als leiser Hinweis auf das Verschwinden.
Ja, ich behaupte: Jede ernsthafte Auseinandersetzung mit Schönheit ist immer auch eine mit der Zeit. Wer genau hinsieht, wer sich nicht vom ersten Reiz blenden lässt, wird diese Ahnung entdecken – leise, aber unmissverständlich.
Es gibt Denkrichtungen, die genau diese Dimension des Menschlichen ausblenden. Der Marxismus-Leninismus etwa hat das Erotische, das Sinnliche, das Vergängliche nie in sein Weltbild aufgenommen. Zeugung, Geburt, Tod – diese zentralen Pole unseres Daseins spielten dort keine Rolle. Vielleicht auch deshalb ist er keine Philosophie im eigentlichen Sinn, sondern eine Ökonomie: eine Ideologie, die den Menschen auf seine Produktivität reduziert – und damit auf das Messbare, Verwertbare, Planbare. Das Fragile, das Geheimnisvolle, das Nicht-Nützliche – also all das, was Kunst im Innersten ausmacht – bleibt außen vor.
Gerade deshalb ist es die Aufgabe der Kunst, an diese verdrängten Zonen zu erinnern. Horst Kistners Werke tun das auf stille, aber unmissverständliche Weise. Sie öffnen Räume für das Uneindeutige, das Schöne im Flüchtigen, das Menschliche jenseits aller Ideologien.
Die Haltung zur Erotik in Diktaturen und orthodoxen Religionen braucht nicht näher erklärt zu werden.
Eine Anekdote mag aber helfen. In den frühen 80er Jahren des letzten Jahrhunderts war ich in der Sowjetunion. Dort übernachtete man in Hotels, die vorwiegend für Ausländer gedacht waren. In der Bar lief ein Fernseher mit der DDR-Sendung „Ein Kessel Buntes“. Das Fernsehballett führte auch den berühmten Can-can auf. Die wenigen hochrangigen Genossen, die zu dieser Bar Zugang hatten, folgten dem Geschehen mit aufgerissenen Augen. Für sie war dies Pornografie.
Andererseits ist bekannt, mit welch einer Menschenverachtung Diktatoren ihre Herrschaft verteidigen und Leben skrupellos vernichten.
Der neue Bildband "Lichtspiele" von Horst Kistner - jetzt blättern
Wenn aus der Kunstgeschichte Erotik und Sinnlichkeit getilgt würden, bliebe nicht mehr viel übrig. Die Sixtinische Kapelle müsste geschlossen und die Wand, an der Michelangelo sein Fresko des jüngsten Gerichts malte, zu einem Kletterparadies umgestaltet werden. Laute Discomusik erschütterte das heilige Gemäuer. Es röche nach Schweiß und verschütteter Bionade.
Freilich blitzt Erotik auch in Kistners Werk auf, aber trotzdem ist seine Kunst nicht explizit erotisch zu nennen. Dafür sind seine Bildwelten zu harmlos, und einem Egon Schiele oder John Currin kann er in dieser Beziehung nicht das Kunstwasser reichen.
Da Kistner aber nicht den Anspruch hat, dieses Thema in den Vordergrund zu stellen, kommt ein anderer Aspekt zum Tragen, der mir bei ihm der künstlerische, rote Faden zu sein scheint: die Melancholie.
Spätestens seit der großen Ausstellung „Melancholie – Genie und Wahnsinn in der Kunst“ im Grand Palais, Paris und der neuen Nationalgalerie Berlin in den Jahren 2005 und 06, ist dieses Thema wieder ein wenig präsenter als zuvor und in dem dazugehörigen sehr umfangreichen Katalog auch gut aufbereitet. In der Antike beginnend, läutet der Katalog das Kapitel der „Moderne“ mehr oder weniger mit Edward Hopper ein.
Hopper ist für Horst Kistner ein – vielleicht das größte – Vorbild aus dem Bereich der bildenden Kunst. Hoppers Bildwelten sind auch die seinen und er denkt in ihnen. Und es ist ebendiese Zeit, in der er seine Geschichten erzählt.
Das Konforme unserer Möbel- und Dingwelt ist nicht Kistners Sache.
Ein Billy- oder USM-Haller-Regal interessiert ihn nicht. Unsere rasende Zeit und die daraus resultierende Oberflächlichkeit wird aus seinen Bildern ausgesperrt. Nicht nur nachdenklich machen seine Fotografien; man verweilt in ihnen und sie sind Ankerpole und eine hoch künstlerisch aufgeladene Form der Entschleunigung.
Nach seiner Zeit als Auftragsfotograf mit dem Schwerpunkt hochwertiger Food-Fotografie sammelte Kistner Vintage Möbel und dazugehöriges Inventar.
Dieser Fundus war Impuls, Kompositionen daraus zu erschaffen und diese letztendlich mit Leben zu füllen.
Natürlich sind seine Models vorzugsweise im passenden Outfit gekleidet, aber sie entstammen nicht einer anderen Zeit. Kistners Fotografie ist zeitgenössisch zeitlos, auch wenn es Stimmen gibt, die seine Arbeit in die Schublade „Vintage Fotografie“ stecken wollen. Die Geschichten, die er erzählt, sind Geschichten unseres Lebens, auf hintergründige Weise wiedergegeben und verschlüsselt.
Aber doch sind sie für jeden zugänglich, der vermag, „sich ein Bild“ – sein eigenes Bild – zu machen.
Wenn Sie Interesse haben können Sie in einem weiteren Artikel – Hinter den Kulissen beim Fotografen Horst Kistner – erahnen wie der Fotograf arbeitet.
Eine weitere und besonders ausgeprägte Obsession Kistners ist noch zu benennen:
Der Fotograf erzählt uns, übersetzt in inszenierte Fotografie, eine gesamte Geschichte – und das in einem einzigen Bild. Kistner stellt keinen Moment dar und bildet auch keinen Gegenstand als solchen ab. Seine Kunst ist ein geronnener Film und eben mehr als nur ein Film-Still. Lichtbildner werden Fotografen genannt. Kistners Licht ist mit der Handschrift eines Malers zu vergleichen. Virtuos beherrscht er das Clair-obscur. Das Hell-Dunkel der Spätrenaissance und des Barock faszinierte ihn schon immer, und die Filme von Alfred Hitchcock taten das Ihre dazu.
Film zur Ausstellung
Freilich kann man solche – in Film und Fotografie „Low-key“ genannten – Effekte technisch durch Unterbelichtung oder Nachbearbeitung herbeiführen.
Das ist aber nicht sein Ding. So sorgfältig, wie Kistner die Bühnen und Kulissen baut, in denen seine teils obskuren Handlungen aufgeführt werden, so penibel wird das Licht gesetzt und lange, bevor das Model den imaginären Raum betritt, ausgiebig getestet.
Der Aspekt des Surrealen darf bei der Betrachtung seines Werkes auf keinen Fall vergessen werden.
Er kann sich in verschiedenen Formen zeigen. Ich sehe Traumsequenzen bildhaft umgesetzt. Dazu bedarf es nicht des Schlafs. Derartige Träume gehören zu Kistners Gedankenwelt. Aus dieser schöpft er unendlich viele Bildwelten, die sich in unser Innerstes einbrennen. Dafür genügt ein einfacher Test, für mich schon seit langer Zeit ein Qualitätsmerkmal bildender Kunst: Nach dem Besuch einer Ausstellung lässt man eine Woche ins Land gehen und versuche sich dann die Bilder in das Gedächtnis zu rufen.
Gelingt dies und erzeugen sie eine Resonanz, war und ist diese gesehene Kunst gut. Wenn dasselbe nach 10 Jahren gelingt, war sie sehr gut.
Über 20 Jahre professionelle Werbefotografie hat Kistner hinter sich. Nach drei Jahren im freien künstlerischen Raum ist dies seine erste größere Ausstellung. „Les sentiments perdus“ im Kunstverein Siegen – ein überzeugender Auftritt, der nach mehr verlangt.
Alle Videos über die Arbeit des Künstlers HORST KISTNER auf unserer Playlist
Horst Kistner
Les sentiments perdus
Fotografie
7. April bis 1. Mai 2016
Kunstverein Siegen im Haus Seel
Kornmarkt 20, 57072 Siegen
Di.-Sa. 14-18 Uhr, So. und feiertags 11-13 und 14-18 Uhr