Der Künstler als Vagabund
Vortrag des Künstlers Thomas Gatzemeier
Vortrag des Künstlers zur Ausstellung
Der Künstler als Vagabund
Ein Vagabund sein klingt wohl despektierlich, meint aber auch einen herumgetriebenen, umtriebigen Menschen. Also einen Suchenden. Denn der Weg ist das Ziel. Zumindest meine ich dies für mich. Die Neugierde treibt einen einfach dazu. Umstände manchmal auch.
Genetische Veranlagung? Wissenschaftler stehen zurzeit wieder auf solche Thesen. Da kommt ein Großvater ins Spiel. Der andere lebte fest verwurzelt im Eichsfeld als Sargtischler und Maler mit Nebenerwerbslandwirtschaft. Karl hatte in einem Gebiet von einem Tagesmarsch – um sein Dorf herum – Meilensteine und Wegmarken zu pflegen. Konnte also ohnehin nicht weg und malte in seiner Freizeit kleine Andachtsbilder um dem lieben Gott zu gefallen.
Düsseldorf, Lübeck, Rostock, Danzig und dann Leipzig – in den 1950er-Jahren Bad Kissingen. Das waren die Orte des umtriebigen Großvaters, der als Zivil-Ingenieur wirkte, also selbstständig war.
Letzteres – die Flucht von Leipzig nach Bad Kissingen – geschah, wie man sich denken kann, nicht freiwillig. Im Übrigen war er unbewusst einer der ersten Umweltschützer. Denn Oskar konstruierte Entstaubungsanlagen für die Industrie. Die Älteren unter Ihnen kennen die seltsamen Kästen oben an den Schloten von Bitterfeld. Die Dinger hat er gemacht. Er sah das mit dem Umweltschutz aber nicht so eng und fuhr einen Nash Advanced Six. Also einen großen Sechszylinder mit ordentlich PS.
Er ist der erste Rumtreiber der Familie.
Mein Vater. Geboren im Eichsfeld und aufgewachsen in einem holländischen Kloster. Studium in Münster und dann Leipzig. Meine Mutter traf er hier – die Umstände sind mir nicht bekannt. Und als er aus dem letzten großen Krieg zurückkam, es wieder etwas zum Beißen gab, zeugte er mich als letztes von vier Kindern. Und das ausgerechnet in Döbeln, wo er eine Stelle bekam, die ihm eigenständiges Arbeiten ermöglichte.
Diese Geburt war ein böses Omen, denn aus letzten Kindern wird meist nix Ordentliches und Einige werden gar Künstler. Van Gogh zum Beispiel. O.k ein bisschen hoch gegriffen.
Mir fiel auf die Schnelle jedoch kein anderer ein. Aber in Döbeln hatte ich dann mein erstes Atelier nach dem Studium auf der Uferstraße nahe der Freiberger Mulde.
Es gab damals sanften Druck. Eine Art Landverschickung junger Künstler um nicht all dieses Volk in Leipzig zu haben. Ausgemacht waren drei Jahre. Keiner war begeistert und die SED-Kreisleitung in Döbeln schon gar nicht. Die kannten mich noch von früher als sogenannten negativ-dekadenten Jugendlichen. Natürlich eskalierte das alles. Sie sehen hier das Bild Anbetung aus dieser Zeit.
Dazu aber an dieser Stelle nicht mehr, denn es war alles zu unerfreulich. Jedenfalls bewahrte uns der Weggang 1986 vor der großen Flut. Das Wasser der Freiberger Mulde hat in meinem ehemaligen Döbelner Atelier erst kurz unter der Decke Halt gemacht. Alles wäre zerstört.
In Karlsruhe landete ich, weil da Verwandtschaft war und wir Unterschlupf fanden.
Das ersparte uns das Aussiedlerheim in Gießen. Dahin kam ich dann aber doch, weil eine meiner Töchter an der dortigen Universität studierte, und letztlich stellte ich auch in der Kunsthalle dieser Stadt aus. Viele Jahre ist es her.
Den Christian lernte ich über meine Tochter kennen. Er studierte auch in Gießen und lebt jetzt am goldenen Strand der Saale in Halle. Er schreibt mir gelegentlich Texte und stand mir bei eigenen Schreibversuchen bei, weil er der Literatur wissenschaftlich und mit Leidenschaft verbunden ist.
Da in den 1980er-Jahren des ausgehenden letzten Jahrhunderts der Leerstand auch in Karlsruhe grassierte und alle dachten, auf dem Land sei es besonders schön, fanden wir großzügige Räume, die wir bis heute als Wohnung und Atelier benutzen.
Freilich war das mit dem Ausstellen in Karlsruhe nicht so einfach. Also schaute ich mich um. Köln war ein guter Anfang und andere Orte kamen dazu. Sogar die Schwaben konnten was mit dem Sachsen anfangen. Nur die Karlsruher Kollegen stehen dem Reingeschmeckten bis heute reserviert gegenüber.
Jedoch blieb es auch in Karlsruhe nicht bei dem einen Atelier.
Einmal hatte ich, um ein größeres Werk zu bearbeiten, ein weiteres in der Sofienstraße und als mich die Wut über die Morde der Rechtsradikalen im Jahr 1992 packte und ich 17 lebensgroße Plastiken verfertigte, besorgte – besetzte ich einen Raum in den IWKA Werken, in denen früher Waffen produziert und Hunderttausende Garanten gedreht wurden. Viele Künstler arbeiteten dort. Später zog das ZKM, die HfG sowie die Städtische Galerie eben da ein und die Beamten begannen ihr Kunstverwaltungswerk. Der Traum der freien Szene war ausgeträumt. Die Bürger beruhigt – der Spuk vorbei.
1989 gab es eine Ausstellung mit dem Titel „Bilderstreit“, welche sehr umstritten war, da von Streit keine Spur, sondern der Erhöhung des eigenen Ansehens durch die ungefährliche Annäherung an gefestigte „Kunstwerte“ das einzige Ziel der Übung schien.
Kann man alles Nachlesen. Von Willkür und Geschichtsklitterung war die Rede. Die üblichen Verdächtigen Protagonisten der westdeutschen Kunstszene waren schon damals omnipräsent und außer einem gingen alle Kölner Galeristen auf die Barrikaden. In der Wochenzeitschrift Zeit gibt es einen guten Artikel dazu.
Also, über Kunst gestritten wurde schon immer. Und das ist auch gut so.
Der damals noch jüngere und ein wenig ungestüme Künstler dachte, etwas dagegen stellen zu müssen. Als seine Galeristin einige Tage herumtelefoniert hatte, um einen echten Rubens auszuleihen, und natürlich keinen bekam, viel mir Paul ein. Paul-Uwe Dietsch studierte erst in Leipzig und wurde dann in Dresden zum Restaurator ausgebildet. Er hat auch aus der sozialistischen Heimat „weggemacht“ und eine Werkstatt in Grasberg gegründet. Eben da oben, wo die Nebel oft so tief über den Weiden wabern, dass man nur die Rücken der weidenden Kühe in der platten Landschaft sieht, als schwämmen sie schwerelos im weißen Milch-Nebel.
Also rief ich eines Nachts Paul an und fragte, ob er mir nicht den Raub der Töchter des Leukippos, möglichst original als Kopie, malen könnte. Er dickte Leinöl ein um die weltbeste Cellulitis nach Rubens malen zu können und fing an. So nahm das Projekt seinen Lauf und wir arbeiteten an die zwei Jahre zusammen in seinem Atelier.
Aßen am Abend erschöpft Bratenbrot mit Soße satt, in der Dorfkneipe der adipösen Wirtin Meta und standen am Dattelautomat, bis uns schummrig wurde. Paul gewann. Ich nicht. Drei Pelzchenvariationen sind hier zu sehen.
Thomas Gatzemeier | Der Künstler als Vagabund
„In Spirit of Rubens“ – so nannten wir übermütig dieses Projekt – wurde in Köln und anderen Ortes ausgestellt.
Dadurch bekam ich den Kontakt zu einem einigermaßen verrückten Züricher, der dringend einen Höllensturz von meiner Hand benötigte. Der Besteller ist nicht mehr aufzufinden und ich habe das Ektachrome, das Repro, auch nicht gefunden. Auf meiner Website ist das Bild aber unter dem Jahr 1990 zu sehen. Ich habe es in einem mir bereitgestellten Atelier in Zürich gemalt. Das Gemälde war so an die 5 Meter hoch.
Ähnliches sollte sich wiederholen. Jedoch mit Altar davor und aufstrebenden Charakters. Dazu später mehr.
Dann war die Mauer weg und der Weg Richtung Osten wieder frei. Es war die Zeit der Kunstvereine und wilden Projekte im beigetretenen Gebiet. Mein Freund und Studienkollege K.E. Lehmann lud mich 1995 zusammen mit dem Atelierhaus Leipzig e. V. zum 2. Sommeratelier in die Buntgarnwerke / Nonnenstraße ein. Schon vorher hatte mich, aber nach diesem Sommeraufenthalt richtig, das Leipzig-Fieber gepackt. Sie sehen in dieser Ausstellung das Bild „Definierter Raum“. Es entstand in besagtem Sommer, der mir für immer in guter Erinnerung bleiben wird.
Doch sollte es mit Leipzig noch ein wenig dauern. Man hat Frau und Kinder und akzeptiert manchmal die Meinung dieser Mitbewohnerinnen.
Also wollten wir noch nicht endgültig umziehen und ich wurde zwar nicht zum Di,Mi,Do, pendelte aber Monat für Monat die schlappen 1060 Kilometer hin und her.
Ab 2007 fand ich in der Pittlerstraße – in der DREMA – ein bescheidenes Atelier. Innenmaß des von mir eingebauten weißen Kubus 200 qm. Maß des Vorraumes – 2000 qm. Früher standen Drehmaschinen in dieser Halle. Natürlich war dieses Atelier nur in der wärmeren Jahreszeit zu benutzen, aber dafür sehr preiswert. Drängte sich das Figürliche 1996 noch zurückhaltend durch die Abstraktion, bekam sie langsam wieder die Oberhand.
Schuld daran ist die Kirche.
Um genau zu sein, die evangelische Kirche. Von dieser bekam ich im Jahr 2002 den Auftrag, ein 60 qm großes Altarbild zu malen. Somit hatte ich dann für einige Monate auch ein Kirchenatelier. Und das ausgerechnet im Hohenlohischen, dem Grenzgebiet zwischen Schwaben und Franken. Dem Gebiet, in dem der Bildersturm sein Werk gründlich vollendet hat.
Thomas Gatzemeier | Der Künstler als Vagabund
Und da kommen wir zur Liberalität.
Ein bildernarrischer katholischer Agnostiker und ehemaliger Messdiener malt in einer evangelischen Kirche eine Auferstehung mit 60 nackten Leibern. Ein Ur-katholisches Bildwerk.
Ganz ohne Konflikt ging das nicht über die Bühne. Aber als dann die Reisebusse kamen und die – sehr gute – Dorfkneipe enorme Umsätze machte, waren alle versöhnt. Allerdings kann ich hier keine Entwürfe zeigen, denn in zwei Wochen sind diese unter anderem in einer größeren Ausstellung in Stuttgart zu sehen. Ich habe Ihnen einige Einladungen mitgebracht, wenn Sie sich den weiten Weg machen wollen.
Durch dieses Bild kam ich wieder zur klassischen Aktmalerei, mit der an der Hochschule für Grafik und Buchkunst zu Leipzig alles begann, wie das hier zu sehende Selbstbildnis mit Aktmodell aus dieser Zeit zeigt.
Das Titelbild dieser Ausstellung „Studio“ und das Bild „Beckenrand“ sind Belege für den Wandel zurück und entstanden in der Pittlerstraße.
Thomas Gatzemeier | Der Künstler als Vagabund
Das Ding mit den Modellen.
Wie schon anfangs beschrieben, gibt es zahlreiche Unterschiede zwischen den verschiedenen Regionen Deutschlands. Besonders auffällig ist jedoch die Leibfeindlichkeit westlich der Elbe. Und das in einem Land, welches sich rühmt, eine sexuelle Revolution gehabt zu haben. Das ist schon hart, und darauf ist eventuell auch die Zurückhaltung, mein Werk betreffend, in Karlsruhe zurückzuführen. Und dies ist wiederum besonders verwunderlich, da Karl Hubbuch 1891- 1979 in dieser Stadt gewirkt hat und überaus verehrt wird. Wer weiß. Ich begreife das nicht.
Jedenfalls ist es fast unmöglich, in Karlsruhe ein Model zu finden. Die Assistentin eines befreundeten Fotografen, natürlich aus Mecklenburg zugezogen, wurde es und noch eine andere selbstbewusste junge Frau, die aus Sachsen kam. In Leipzig war das anders und Nacktheit eine Selbstverständlichkeit. Werde demnächst erproben, ob dies immer noch so ist.
Bundesimmobilienvermögen wird leider nicht wie Vermögen behandelt. Da die staatliche Verwaltung der DREMA in der Pittlerstraße Steigleitungen kappte und Fluchtwege zumauerte, wurde eines Tages die gesamte Fabrik durch die Feuerpolizei gesperrt. Obwohl ich allein auf einer Fläche arbeitete, wo früher 400 Arbeiter ihr Werk taten, mussten die feuertechnischen Einrichtungen natürlich für 400 Personen ausreichend sein.
Es stand ein weiterer Umzug an. Ich bezog ein Atelier auf der Buschstraße und legte die Modelle auf Sofas. In meiner Freizeit schrieb und veröffentlichte ich im eignen Verlag noch zwei Romane und einen kleinen Band Erzählungen. Auch die liegen hier aus und in einer weiteren Veranstaltung werde ich sie vorstellen und Neues lesen.
Nach über 100 Lesungen, vorwiegend auf Musikdampfern und hoher See, den zwei Arbeits- und Wohnorten, der ganzen Pendelei und einigen Ausstellungen, stellte sich eine gesundheitliche Unpässlichkeit ein und mir wurde von meinem Leibarzt dringend geraten, ein wenig ruhiger zu werden. Also gab ich mein Atelier in Leipzig 2015 auf.
Über die Kunst an sich hatte ich noch nicht gesprochen? Mit der ist es genauso wie mit dem Vagabundieren. Ich konstatiere bei den Theoretikern seit geraumer Zeit eine gewisse Hilflosigkeit. Oft werden Ausstellungen so besprochen, wie man sich dies von einem Teilnehmer einer Teilnehmerin des LK-BK in der Klasse 12 vorstellt.
Man spricht jetzt seit über 100 Jahren von „moderner Kunst“. Ein Theoretiker rief letztens gar die zweite Moderne aus und konnte damit auch nicht punkten.
Und jetzt hier noch, ehe sie einen kritischen Blick auf mein Artefakte werfen, meine – freilich verkürzte – Theorie. Denn ich bin Maler und möchte den Kunsttheoretikern nicht alles wegnehmen.
Wir haben ein großes Maß an Freiheit erlangt, sind aber hilflos im Umgang mit ihr. Einige verharren noch in regionalen und stilistischen Schützengräben, andere irren hilflos herum. Es ist nicht nur so, dass Freiheit zuerst die Freiheit des anderen ist, man muss auch verstehen, mit ihr umzugehen. Es gibt so viele Möglichkeiten wie noch nie, aber die meisten Protagonisten des Kunstbetriebs scheinen verwirrt. Manche hilflos. Andere aggressiv.
Denken sie, und das ist jetzt wirklich ein Gemeinplatz, an Picasso oder Picabia. Die Moderne ist eines. Stillos im besten Sinne.
Das jedoch entbindet den Betrachter, als auch den Rezensenten nicht davon, über Kunstqualität nachzudenken. Denn diese ist letztendlich das einzige Maß. Das Maß, welches die Zeit besiegt. Denn die Zeit kennt keine Ismen und auch keine Gnade.
Und das noch. Es gibt Unterschiede. Ja. Der Ostkünstler meines Alters steckt voller Selbstzweifel, auch wenn er sie nicht zeigt. Er ist einfach anders sozialisiert. Das kann einerseits gut und produktiv sein, sollte jedoch niemals Minderwertigkeitsgefühle wecken, denn diese äußern sich oft in undifferenzierter Aggressivität. Also seit lässig und nehmt das Leben trotzdem ernst.
Ach! – die Ateliers. Haben die was mit meiner Kunst zu tun? Auch. Aber ich glaube eher das Drumherum.
Dies hier soll meine Einführungsvorlesung und Ausstellung sein, denn – so Gott es gut mit uns meint – ziehen wir in wenigen Monaten für unser letztes Lebensdrittel endgültig nach Leipzig. Dann haben wir 33 Jahre in der SBZ und 33 Jahre in Westdeutschland gelebt. Also stand wieder eine Veränderung an.