Blindsight - die Psychologie der Selbstbetrachtung
Die Fotografie „Blindsight“ von Horst Kistner
Eine Frau spritzt mit einem harten Wasserstrahl auf einen runden Spiegel – ein präzise ausgeleuchtetes Bild über Selbstbild, Reinigung, Verdrängung und die Frage, was wir sehen, wenn wir nicht sehen wollen.
Die Fotografie „Blindsight“ von Horst Kistner ist ein Motiv des Selbstzweifels und zeigt die Dualität zwischen Spiegelbild und Identität.
„Blindsight“ zeigt eine Frau mit kupferrotem Haar in einem mintgrünen, paisleygemusterten Kleidungsstück, welches an einen Morgenmantel erinnert. Über der Schulter trägt sie eine leuchtend ziegelrote Handtasche; ein Gartenschlauch legt sich wie eine dressierte Schlange um ihren Körper. Die rechte Hand hält eine Spritzpistole, aus der ein fächerförmiger, scharfer Wasserstrahl direkt auf einen runden Wandspiegel trifft.
Ihre Haltung entspricht der einer Schützin, welche mit einer Pistole ein Ziel anvisiert – sich selbst.
Links im Bild: ein olivfarbenes Waschbecken, kleine orange Halterungen, Seife, Handtuch – ein in sich stimmiges, fein orchestriertes Farbsystem wie wir es von dem Fotografen Horst Kistner kennen. Oben links öffnet ein Fensterstreifen den Blick auf einen warmen Abendhimmel. Das Wasser zerstäubt zu tausenden Tropfen, die im Licht funkeln.
Kistner arbeitet mit seinem typischen, dramatischen Chiaroscuro: Die linke Bildhälfte leuchtet, die rechte bleibt in kontrollierter Dunkelheit – Bühne und Gegenbühne zugleich
Die Psychologie der Selbstbetrachtung
Der Spiegel, Sinnbild von Selbsterkenntnis und Selbstentwurf, ist hier nicht zu sehen – er wird ausgelöscht. Der Strahl verwischt jede Reflexion, als wolle die Protagonistin ihr Gesicht aus der Welt schaffen: Vergangenheit abwaschen, Erinnerung glätten, Rollenbilder sprengen. Zugleich liegt in der Geste eine Ambivalenz zwischen Reinigung und Aggression.
Der Schlauch, der sie umfasst, erinnert auch an eine Leine – Selbstkontrolle oder selbst auferlegte Fessel? Der Titel „Blindsight“ dieser Fotografie von Horst Kistner verweist auf das paradoxe Sehen ohne Bewusstsein: Wir handeln, obwohl wir das Bild nicht mehr vor Augen haben. So verwandelt Kistner ein alltägliches Badezimmer in ein psychologisches Labor.
Der Spiegel in der Kunst
Seit Narziss steht der Spiegel für Begierde und Selbsterkenntnis; in den Vanitas-Stillleben war er ein Warnzeichen der Eitelkeit, bei Jan van Eyck und Velázquez öffnete er komplexe Blickräume und Fragen nach Wahrnehmung und Wahrheit. Kistner knüpft an diese Tradition an – doch statt einer Bestätigung des Ichs zeigt er die Unterbrechung der Selbstsicht.
Der Spiegel wird zur weißen Scheibe, zum geblendeten Auge. Damit stellt die Fotografie „Blindsight“ des deutschen Fotografen eine Frage unserer Zeit der öffentlichen Darstellung: Wer sind wir, wenn das Bild von uns selbst verschwindet? Blindsight – die Psychologie der Selbstbetrachtung ist ein Text zu der Fotografie von Horst Kistner.
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